Anfang November, morgens halb zehn Uhr in Bonn.

Ich warte auf die U-Bahn. Genau einen Tag zuvor habe ich durch Medien und meine Freunde erfahren, dass die Universität in Kabul von Taliban angegriffen worden ist. Dabei sind über zwanzig Student*innen gestorben und sehr viel mehr von ihnen verletzt.

Ich schaue auf das Schild an der Wand, dessen Beschriftung vom Namen einer deutschen Haltestelle kündet, aber ich lese nichts, ich sehe nur meine ehemalige Universität vor mir … meine arme, arme Uni, sie ertrank wieder im Blut …

Ich warte zwischen dem Gelb der Wände auf die U-Bahn, ich sehe nichts, höre nichts, rieche nichts, meine Gedanken sind in Kabul mit seinen Schmerzen und Leiden.

In diesem Moment bin ich unentrinnbar unter Beschuss von Erinnerungen, die ich seit zwei Jahren vergessen möchte: Nun sind sie da. Sie sind da, sie sind da.

Bis vor zwei Jahren habe ich in Kabul gelebt, ich habe so viele von diesen Attentaten selbst gesehen. Es gibt in meiner Muttersprache dafür den Ausdruck: „Ich habe es mit nackten Augen gesehen“. Ja, mit den Augen nackter Verzweiflung. Meine Augen sahen abgerissene Hände, Füße, Köpfe, Gehirnmasse und Blut auf der Straße vor meiner Universität. Meine neuen Schuhe waren blutig, ich war auf dem Weg zu meiner Chirurgie-Prüfung, ich habe sie mit blutigen Schuhen geschrieben. Diese Schuhe konnte ich nie wieder an meinen Füßen ertragen.

Ich habe ausgerissene blutige Augäpfel gesehen, die vom Bürgersteig aus in meine Augen blickten. Und dann wurde auch das Krankenhaus angegriffen, in dem ich seit kurzer Zeit als Ärztin zu arbeiten begonnen hatte. Es war eine sehr schwere Bombenexplosion, in der viele, viele Menschen vor meinen Augen gestorben sind – Patient*innen, ihre Familien, die sie besuchten, meine Kolleg*innen, unser Bäcker, unser Koch, einer hatte seine Hand verloren, die anderen haben ihre Augen, Nase, Ohren oder Füße von einem Moment zum anderen verloren, Decken brachen über uns zusammen, Geschrei, Staub, Chaos, Todesangst.

Diese bitteren Erinnerungen überfallen mich immer wieder. Nicht nur an diesem Novembermorgen, aber an diesem Novembermorgen besonders intensiv.  Ein weiteres Gefühl stellt sich ein, es ist erst verschwommen, dann messerscharf: Ich habe plötzlich ein Gefühl von Schuld in mir. Schuldig gegenüber allen, die diesem täglichen Horror in Afghanistan noch nicht entkommen können. Ich konnte, und das macht mir ein schlechtes Gewissen. Ganz plötzlich, und es fühlt sich schrecklich an, verloren. In diesem U-Bahn-Schacht im Zwielicht, in diesem Land, das mir seit kurzem Heimat sein soll. Und plötzlich bewegt sich auf dem Bahnstein ein gut gekleideter Mann auf mich zu, groß, ein paar Jahre älter als ich. Er stellt sich neben mich, schaut mich an und stößt hinter seiner Viren-Maske hervor: „Verschwinde!“

Ich schäme mich in diesem Moment so sehr darüber, dass ich das Privileg eines neuen Anfangs fern der täglichen Lebensbedrohung durch Attentate habe und so viele andere Afghan*innen nicht, dass ich seiner Aufforderung erst einmal gar nichts entgegnen kann.

Die Bahn kommt und ich steige ein. Entwerte den Fahrschein und weine. Fahre elf Stationen in die Stadt und weine die ganze Zeit. 

Warum soll ich verschwinden? Und wohin?

Wo ist mein Platz in dieser Welt?

Ich sitze auf dem grünen Kunstleder der U-Bahn-Sitze und fühle mich fremd in mir und an jedem anderen vorstellbaren Ort der Welt.

Wo ist mein Platz auf dieser Erde?

Habe ich auf dieser Erde nur das Recht zu sterben, aber nicht auch das Recht zu leben, zu sein?

Als ich vor zweiunddreißig Jahren zur Welt kam, konnte meine Mutter mich wegen des Kriegs nicht stillen, ich musste mein Recht auf die mütterliche Brust an den Krieg abtreten. Als Kind bin ich nicht in eine Kita oder einen Kindergarten gegangen, und nie habe ich auf einem Spielplatz gespielt. Ich kannte kein Gebäude als Schule und habe meinen Stift und mein Papier in den Ruinen bei mir gehabt.

In meiner Jugend kamen Ängste aus allen Richtungen.

Angst ums Überleben.

Angst vor dem Verlust meiner liebsten Menschen.

Angst vor Verletzungen.

Angst vor übler Nachrede.

Angst vor Denunziation.

Ich habe immer von einem Land geträumt, in dem die Menschen ihre Lebenswege mit Liebe, Sympathie, Geduld und Akzeptanz füreinander gehen.

Egal, welchen Weg der Schöpfer der Welt für sie vorgesehen hat, egal, für welche Wegbiegungen und Wegrichtungen sie sich jeweils entscheiden – es geht um diese Qualitäten: Liebe, Sympathie, Geduld und Akzeptanz.

Mein Lebensweg besteht bis jetzt aus der Suche nach einem Ort, an dem ich als Frau und als Mensch anerkannt werde und leben darf.

Mit dieser Hoffnung bin ich hierhergekommen.  Auch hier auf diesen U-Bahnsteig, an einem Morgen im November, während in Kabul junge Student*innen Opfer eines weiteren Attentats geworden sind. „Verschwinde!“, sagt da plötzlich einer zu mir, der nichts von mir weiß und kennt. Auch nichts von den Nöten der Welt. Gar nichts.

10. November 2020, Farghana

[Trotz Covid-19-Pandemie will die Bundesregierung nach acht Monaten Pause wieder nach Afghanistan abschieben. Der erste Sammelabschiebungsflug ist bereits für kommenden Monatg (16. November 2020) geplant. In dieser Pressemitteilung fordert der Flüchtlingsrat NRW den sofortigen Abschiebestopp.]