Eindrücke aus Massenunterkünften

Seit dem Sommer 2015 engagiere ich mich bei der Flüchtlingshilfe Bonn e.V./save me Bonn. Als damals viele Flüchtlinge in Bonn eintrafen, wollte ich gerne Patenschaften mit geflüchteten Menschen übernehmen. Seit dieser Zeit habe ich mehrere Flüchtlinge und ihre Familien- und Freundeskreise begleitet: junge Frauen, junge Männer, eine alleinerziehende Mutter und ihr Kind, alle aus westafrikanischen Ländern kommend. Die meisten von ihnen sind inzwischen gut integriert und als Bonner Neubürger*innen angekommen.

Seit Kurzem pflege ich auch eine Patenschaft mit einer jungen geflüchteten Frau (im Folgenden Frau A. genannt), die in der ZUE Sankt Augustin untergebracht ist bzw. war. ZUEs – Zentrale Unterbringungseinrichtungen- sind große Flüchtlingsunterkünfte der Bundesländer (in anderen Bundesländern auch ANKER-Zentren genannt) für Menschen aus unterschiedlichen Ländern, die dort z.B. auf den Abschluss ihres Asylverfahrens warten, bis sie entweder einer Kommune zugewiesen werden, ausreisen müssen oder abgeschoben werden. Die Betonung liegt auf „warten“. Denn dies kann viele Monate, manchmal länger als ein Jahr dauern. So auch in der ZUE Sankt Augustin bei Bonn. Dort sind bis zu 500 Menschen gemeinsam untergebracht, zum Teil in Schlafsälen mit bis zu 14 Personen. Sie erhalten zentrale Verpflegung in einer Kantine (in Corona-Zeiten auch auf dem Zimmer) zu festen Essenszeiten und ein geringes Taschengeld, ansonsten gibt es einige wenige Angebote wie einen Fitnessraum, Kinderspielzimmer, Gemeinschaftsraum mit einem Fernseher. 

Im Bonner Umfeld gibt es mehrere zentrale Unterbringungseinrichtungen oder Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes NRW: die EAE in der ehemaligen Ermekeilkaserne (Schwerpunkt Erstaufnahme, Warten auf die BAMF-Befragung), ZUE Sankt Augustin (nach abgeschlossener Befragung zum Warten auf den Bescheid), ZUE Muffendorf (Asylbewerber mit abgelehntem Asylantrag). Die Bonner Einrichtungen unterstehen der Bezirksregierung Köln, das Zentrum in Sankt Augustin wird von einer privaten Betreibergesellschaft für Asylbewerberunterkünfte verwaltet.

Die Einrichtungen sind hermetisch abgeschlossen, die Bewohner*innen können (oder konnten vor der Quarantäne) die ZUEs zwar verlassen, Besuch von außen ist jedoch fast unmöglich. Nur nach langen Telefonaten bekam ich überhaupt Zugang als Übersetzerin bei medizinischen Konsultationen, Besuche waren nicht möglich.

Seit einem halben Jahr bin ich regelmäßig mit Frau A. in Kontakt. Sie hat mir viel über die für sie schwierige Situation in der Unterkunft erzählt: Sie fühle sich angesichts von bis zu 14 Personen im Schlafsaal oft sehr in ihrer Nachtruhe gestört, sie sei wie viele ihrer Mitbewohner*innen nicht zufrieden mit der Qualität des Essens und die Kommunikation nach außen sei auf Grund von schwachem WLAN oft nicht möglich.

Diese Lebenssituation ist eine starke psychische Belastung für die häufig ohnehin schon traumatisierten Menschen; es kommt daher oft zu Aggressionen und Angstzuständen bei Mitbewohner*innen. Immer wieder, so wird es mir erzählt, gibt es auch Konflikte zwischen den Bewohnergruppen. Der Zugang zu Informationen ist erschwert, was die Verbreitung von Falschinformationen und Gerüchten befeuert. Auch wird der Kontakt zu unterstützenden Gruppen und Organisationen außerhalb des Zentrums wenig in Anspruch genommen, da die Bewohner*innen kaum Kenntnisse von diesen haben und kein freier Zugang für Unterstützer*innen und Ehrenamtliche besteht. Das gilt selbst für den Rechtsbeistand.

„Das wäre eine Katastrophe!“

Bereits bei den Kontakten Mitte März, schon da immer unter Einhaltung der geltenden Abstandsbestimmungen, teilte mir Frau A. ihre Befürchtungen wegen der Corona-Infektiongefahr in der ZUE mit: „Das wäre eine Katastrophe!“ Viele Mitbewohner*innen seien sehr besorgt. Sie berichtete über die beengten Verhältnisse im Schlafsaal, in Sanitärbereichen und in der Kantine. Die Abstandsregelungen einzuhalten, sei nicht möglich. Es gebe auch keine Mund-Nasenschutze, Sanitärbereiche lägen entfernt, zu wenige Waschbecken, es fehle Seife zum Händewaschen.

Irritiert haben mich auch die Gerüchte und die Fake-News zu Corona, die dort zirkulierten, und die mangelnden Kenntnisse der Bewohner*innen über das Virus. Das Bereitstellen von Flyern und Hinweisaufklebern allein kann offensichtlich nicht eine mündliche Aufklärung und Beratung ersetzen. Mit den Bewohnern zu sprechen, sie mündlich zu informieren, mit ihnen auch persönlich zu diskutieren, wäre absolut notwendig.

So kam der Corona-Ausbruch in Sankt Augustin mit bislang 178 positiv Getesteten überhaupt nicht überraschend. Durch die fehlenden Abstands- und Hygienebedingungen war die Situation zu erwarten. Ich habe mich gefragt, warum nicht schon zu einem früheren Zeitpunkt in diesen Zentren Tests durchgeführt wurden.

Bei Bekanntwerden des Corona-Ausbruchs reagierten die Verantwortlichen vor Ort schnell, am gleichen Tag  wurden die positiv Getesteten in Quarantäne-Einheiten innerhalb der ZUE Sankt Augustin zusammengefasst, die negativ Getesteten in andere Unterkünfte verlegt, eine Gruppe in die ZUE Schleiden Vogelsang.

Hierbei handelt es sich um eine ehemalige NS-Ordensburg, die später in eine britische bzw. belgische Kaserne umgewandelt wurde, bevor sie zu einem Dokumentationszentrum wurde. Vogelsang liegt in der Eifel inmitten eines Naturparks, weit entfernt von jeglicher Infrastruktur und städtischer Siedlung. Nachdem einige der Transferierten beim zweiten Test in Schleiden ebenfalls Covid 19- positiv getestet wurden, stand auch für diese Gruppe Quarantäne an. Aus den letzten Gesprächen mit Frau A. höre ich die pure Verzweiflung wegen der Quarantäne und Abgeschnittenheit von jeglicher Örtlichkeit, wegen fehlender Information. Es gibt keinerlei Auskünfte von den Betreibern, wie es perspektivisch weitergehen soll.

Die Quarantäne ist nun bald zu Ende, es stehen weitere Tests an. Was dann werden soll, ist nicht klar und wird nicht kommuniziert. Die mangelnde Kommunikation und Information wird mir wiederholt als das quälendste Problem geschildert.

Was 2020 anders ist als 2015

In einem wirklich integrationswilligen Land wäre für einen gebildeten und motivierten jungen Menschen wie Frau A. auch ein ganz anderes Szenario möglich gewesen. Sie wäre dezentral untergebracht und hätte Zugang zum öffentlichen Leben, z.B. mit Hilfe unserer Patenschaft. Sie hätte Sprachkurse absolviert und jetzt nach einem halben Jahr evtl. schon ein gutes Sprachniveau. Ihre Bewerbungsunterlagen wären zusammengestellt, ein Bewerbungstraining absolviert, erste Kontakte für Praktika im gewünschten sozialen Bereich wären geknüpft, vielleicht gäbe es sogar schon konkrete Planungen für eine entsprechende Berufsausbildung. Frau A. hätte zudem eine professionelle Traumatherapie erhalten und wäre nicht nur durch Medikamente ruhiggestellt worden. Es gäbe Kontaktmöglichkeiten für sie, so dass sie in einen Freundeskreis eingebettet sein könnte. Frau A. könnte ein Musterbeispiel gelingender Integration sein, sie wäre bereit für Teilhabe und Mitverantwortung in der Gesellschaft.

Als im Sommer 2015 sehr viele Flüchtlinge nach Bonn kamen, gab es jede Menge riesengroßer Herausforderungen zu bewältigen. Vieles ist damals in der Akutsituation nicht reibungslos verlaufen. Konnte es auch gar nicht. Die Neuankömmlinge wurden improvisiert und dezentral in vielen unterschiedlichen Einrichtungen untergebracht, nicht immer optimal. Es war damals jedoch viel leichter, das große Projekt Integration anzugehen: viele motivierte Freiwillige aus der Bevölkerung, weitreichende Hilfsangebote der Integrationsbehörden und -organisationen, eine gewisse Eigenständigkeit der Flüchtlinge bei der Gestaltung des Alltags, viele Sprachkurse, vielfältiges Engagement der Bonner Bürger*innen für Geflüchtete, für Familien und Kinder. Nach meinen Erfahrungen war es für Neuankommende leichter als heute, Kontakte zu knüpfen, die Sprache zu erlernen, um dann Praktika und Ausbildungsplätze zu finden. Manchmal war das sogar in relativ kurzer Zeit möglich. Durch die niedrigschwelligen Kontakte war ein rasches interkulturelles Lernen möglich.

So wie ich heute die Unterbringung in ZUEs erlebe, frage ich mich jedoch, wie die dort Untergebrachten je in unserer Gesellschaft ankommen können. Sie haben dort deutlich schlechtere Chancen: geschlossene Gesellschaft in den Zentren mit all den Ängsten und Unsicherheiten, was die Zukunft betrifft, kaum Kontakte nach außen, nach Monaten des Aufenthalts noch geringe Sprachkenntnisse, verlorene Lebenszeit und unproduktives Warten, Warten, Warten.

Der einzige positive, wenn auch halbironische Kommentar, den ich von einem Bewohner gehört habe: Sie seien dort mit den hohen Zäunen und der ständig präsenten Security zumindest in Sicherheit.

Immerhin eine sehr erfreuliche Erfahrung war der Kontakt mit dem Personal des medizinischen Dienstes und der Asylverfahrensberatung des Arbeiter-Samariter-Bundes, das sich im Rahmen seiner Möglichkeiten sehr um die Belange der Bewohner*innen gekümmert hat.

Was tun?

Man muss sich fragen, ob das „System“ ZUE verbesserungsfähig ist. Ich meine: NEIN. Die Unterbringung von so vielen Menschen auf engstem Raum und in großer Abgeschlossenheit erzeugt viele Probleme (am Beispiel Corona besonders deutlich zu sehen) und behindert massiv eine gelingende Integration. Ich meine, es wäre hilfreich, die Ankerzentren und ZUEs zu schließen und erfolgversprechendere Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen, in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und unterstützungsbereiten Organisationen und Ehrenamtlichen.

Notwendig ist die dezentrale Unterbringung von Flüchtlingen, besonders für Familien. Sie brauchen die Möglichkeit einer eigenverantwortlichen Haushaltsführung und Ernährung, die Einschulung der schulpflichtigen Kinder, Intensivsprachkurse direkt nach Ankunft, freie Kontaktmöglichkeiten mit Nachbar*innen, Freund*innen und Unterstützer*innen, einen niedrigschwelligen Zugang zu Integrationsorganisationen und zum Rechtsbeistand, um nur die wichtigsten Forderungen zu nennen.

Wird durch die Struktur der bestehenden Zentren die Integration der Neuankömmlinge und deren Teilhabe an der Gesellschaft weiterhin so erschwert oder unmöglich gemacht, so handeln wir uns massive Probleme für die Zukunft ein. Die sind dann Jahre später nur sehr schwer wieder zu beheben. Wir haben ja in den vergangenen Jahrzehnten an vielen Orten unseres Landes schwierige Erfahrungen mit wenig oder schlecht integrierten Migrant*innen gemacht. Es ist allerhöchste Zeit, aus diesen Erfahrungen zu lernen. Schnell und gründlich.

10. Juni 2020, Maria Grill